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übernommen aus:

DIE ZEIT

Politik 16/2002

Einsperren ist teuer und sinnlos

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Gefängnisse sind Schulen des Verbrechens. Trotzdem werden immer mehr Menschen weggeschlossen. Noch nie zuvor wurde in Deutschland so viel Geld für den Bau neuer Strafanstalten ausgegeben. Ein Irrweg. Gemeinnützige Arbeit und Fahrverbote für Kleinkriminelle wären oft eine Alternative

von Martin Klingst

Fiktion. Wir schreiben das Jahr 2013. Weil die Öffentlichkeit Kriminelle jedweder Art weggesperrt sehen will, haben die Politiker zum wiederholten Mal die Gesetze verschärft. Immer öfter bringt die Justiz große und kleine Verbrecher hinter Schloss und Riegel. Die Gefängnisse, auch die vielen neuen, die der Staat in den vergangenen Jahren in großer Zahl aus dem Boden gestampft hat, sind überfüllt. Das Programm verschlingt Milliarden. Weil die Strafanstalten inzwischen zu teuer und zu voll sind, um darin andere als Bagatelldelikte zu sühnen, erfindet Großbritannien für Schwerkriminelle eine neue Strafe: das Schlafkoma. Mit einem mittels Spritze verabreichten Medikament wird der Verbrecher für Jahre in einen Dämmerzustand versetzt - eine Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod.

So beschreibt Philip Kerr in seinem preisgekrönten Kriminalroman, Das Wittgenstein-programm, die Zukunft des Bestrafungswesens. Das Strafkoma erklärt er so: "Im Vergleich zu den Kosten, die eine zehn- bis fünfzehnjährige Gefängnisstrafe verursachte, war es billig. Seit es ‰intelligente Betten', computergesteuerte selbstregulierende Kokons, billige Herz-Lungen-Maschinen und kostengünstige Möglichkeiten der intravenösen Ernährung gab, konnte man einen Strafgefangenen für weniger als ein Zehntel der Kosten, die eine Gefängnisstrafe verursacht hätte, im Koma halten."

Und noch ein Vorteil: "Das Koma verhinderte auch jede Gelegenheit zu weiterer krimineller Aktivität, wie sie in Gefängnissen üblich war. Über Nacht zerstörte die Einführung des Strafkomas eine Gesellschaft von Verbrechern und machte teure Gefängnisrevolten zu einer Angelegenheit der Vergangenheit. Und je nach der Wahl der angewandten Chemikalien konnte das Koma ohne größere physische oder seelische Schäden rückgängig gemacht werden."

Auch wenn das Schlafkoma, aus heutiger Sicht, eine zum Glück wirklichkeitsferne, absurde Idee ist - wirklichkeitsnah ist Philip Kerrs Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände. Obwohl feststeht, dass hinter Gittern kaum jemand zu einem streng gesetzestreuen Menschen wird, vielmehr in der Regel vier von fünf aus der Haft Entlassene wieder rückfällig werden, verhängen die Richter heute mehr und längere Freiheitsstrafen als noch vor zehn Jahren. Die Folge: Die Gefängnisse platzen aus allen Nähten, die Kosten steigen ins Unermessliche. Die Errichtung eines neuen Haftplatzes kostet 150 000 Euro. Ein Tag in der Zelle kommt auf ungefähr 100 Euro.

Säßen hinter Gittern nur Mörder, notorische Gewalttäter und Sexualverbrecher, man brauchte nicht lange über die Gefängnispolitik zu diskutieren. Menschen, vor denen die Gesellschaft unmittelbar geschützt werden muss, gehören weggesperrt - für die vom Strafurteil bestimmte Zeit. In den Zellen sitzen aber viele, die dort nicht hingehören: zum Beispiel jene, die ihre Geldstrafe nicht zahlen können. Doch statt für sie und viele andere Kleinkriminelle endlich nach einer alternativen Strafe zu suchen, verschließt die Politik die Augen vor der bitteren Wirklichkeit und verschwendet Milliarden Euro für den Bau neuer Gefängnisse. Auch Rot-Grün fehlt bislang der Wille und der Mut zu einer großen Reform.

Wirklichkeit Nummer eins. In der westeuropäischen Gefangenenstatistik nimmt Deutschland einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Kamen Anfang der neunziger Jahre noch rund 80 Männer und Frauen pro 100 000 der Wohnbevölkerung in den Knast, sind es heute 96. Mehr sind es nur noch in Spanien, Großbritannien und Portugal. Die anderen EU-Staaten stecken wesentlich weniger Menschen hinter Gitter. Am unteren Ende der Skala stehen Finnland (45) und Schweden (60). Selbst die Niederlande, die in den achtziger Jahren ein riesiges Gefängnisbauprogramm auflegten und heute dreimal mehr Straftäter einsperren als damals, erreichen längst nicht den deutschen Wert.

Die Quote der Strafgefangenen in Deutschland ist bei genauer Betrachtung sogar noch dramatischer. Denn die Statistik rechnet nicht jene rund 5000 Straftäter mit, die in psychiatrischen Kliniken oder Erziehungsanstalten des Maßregelvollzugs einsitzen. Schlimmer noch: Auch junge Straftäter kommen immer öfter hinter Schloss und Riegel. Nach einer Untersuchung des international renommierten Greifswalder Kriminologen Frieder Dünkel verdreifachte sich zwischen 1994 und 1999 die Gefangenenrate 14- bis 18-Jähriger und stieg jene der 18- bis 25-Jährigen um mehr als das Doppelte. Konkret heißt das: Kamen 1994 noch 70 von hunderttausend 18- bis 25-Jährigen hinter Gitter, waren es 1999 bereits fast 190 (statistisch gemessen 188,2). Bei den 14- bis 18-Jährigen wuchs die Quote, pro hunderttausend ihrer Altersgruppe, von rund 10 auf 35,9.

Wirklichkeit Nummer zwei. Kein anderes westeuropäisches Land hat in den vergangenen Jahren ein derart gewaltiges Gefängnisbauprogramm aufgelegt und so viel Geld dafür aufgebracht oder in die Haushalte eingeplant wie die Bundesrepublik. Die Regierungen zwischen Hamburg, Dresden und München (der Strafvollzug ist Ländersache) taten so, als sei die Gefangenenwelle wie eine unabwendbare Naturkatastrophe über sie gekommen. Und sie schufen auf sehr vordergründige Weise Abhilfe: Anbau, Umbau, Neubau. In manchen Gefängnishöfen wurden über Nacht Zellencontainer aufgestellt. Weil die Anstalten hoffnungslos überbelegt waren, Gefangenenmeuterei und ein Aufstand der frustrierten Betreuer drohten, machten die Justizminister bei ihren Kollegen von der Finanzbehörde erfolgreich Milliarden Euro locker. Denn kaum etwas fürchten Regierungen demokratischer Staaten mehr als Schlagzeilen über Knastrevolten, Ausbrüche und herumlaufende Verbrecher, für die keine Zelle frei ist.

In einer aufsehenerregenden Studie vom Mai 2000 berichtete das angesehene Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) über ein in der Geschichte bislang einzigartiges Bauprogramm: Die Zahl der Haftplätze sollte, quer durch die Republik, drastisch erhöht werden - von insgesamt 75 847 auf 84 873. Das bedeutete eine Steigerung von zwölf Prozent. Die Kosten: rund 1,5 Milliarden Euro, die Ausgaben für den Betrieb der neuen Zellen nicht einberechnet.

Heute, nur zwei Jahre später, sind diese Zahlen untertrieben. Nach einer Umfrage der ZEIT vom März dieses Jahres, an der sich alle Bundesländer mit Ausnahme von Hamburg beteiligt haben, sollen jene rund 75 000 Haftplätze vom Mai 2000 um mindestens 12 000 aufgestockt werden. Teils gibt es sie schon, teils sind sie noch im Bau oder erst in Planung. Nach dieser Umfrage sind in allen Bundesländern die Gefängnisse für Erwachsene nach wie vor überbelegt, herrscht in vielen Anstalten beklemmende Enge, was gegen die Menschenwürde verstoßen kann, wie das Bundesverfassungsgericht vor zwei Wochen geurteilt hat. Zudem: Die Mehrheit der Befragten rechnet in den kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg der Häftlingszahlen.

Fünf Beispiele: Bayern plant bis zum Ende dieses Jahrzehnts insgesamt 1400 neue Plätze (800 davon sind bereits ganz oder teilweise fertig gestellt), Nordrhein-Westfalen 1300, Rheinland-Pfalz 730 und Baden-Württemberg 480. Hessen hat seit 1999 bereits 550 neue Plätze errichtet, benötigt aber weitere 750; Sachsen-Anhalt baut derzeit 400 und plant darüber hinaus zusätzliche 790. Das kostet die Länder viel Geld. Die vor zwei Jahren dafür veranschlagten 1,5 Milliarden Euro werden nicht ausreichen, zumal die neuen Bundesländer ihre zum Teil noch vorsintflutlichen Gemäuer renovieren und ersetzen müssen.

Wirklichkeit Nummer drei. Seit dem Fall der Mauer ist die Kriminalität insgesamt gestiegen, besonders die Zahl der Gewalttaten hat zugenommen, dies alles aber nicht in dem Ausmaß und in der Bedeutung, dass damit der drastische Anstieg der Gefangenenzahl zu rechtfertigen wäre. Die wahren Gründe dafür sind der öffentliche Ruf nach härterer Bestrafung, schärfere Gesetze und eine rabiatere Justiz. Seit 1989 weht in Deutschland überhaupt ein rauerer Wind. Das Unsicherheitsgefühl der Menschen in einer Welt des raschen Wandels und offener Grenzen ist allgemein gewachsen. Zudem schüren auch die Medien die Angst vor Kriminalität, indem sie jeden Taschenraub auf die Titelseite bringen. Die Folge: höhere Mindeststrafen selbst bei vergleichsweise harmlosen Gewaltdelikten, also mehr Freiheitsstrafen, vor allem solche ohne Bewährung auch in minder schweren Fällen, insgesamt längerer Freiheitsentzug und weniger vorzeitige Entlassungen wegen guter Führung.

Lasche, laue Strafjustiz - das ist ein Vorurteil von vorgestern. Der Strafrechtsprofessor Frieder Dünkel hat zum Beispiel aufgedeckt, dass in Mecklenburg-Vorpommern immer mehr Gefangene ihre volle Haftzeit verbüßen müssen. Und auch die Wissenschaftler des KFN stießen bei ihren Recherchen auf einen merkwürdigen Befund: Zwischen 1990 und 1998 hatten sich die in den alten Bundesländern verhängten Haftjahre um 40 Prozent vermehrt, die Zahl der Angeklagten hatte jedoch nur um 7,2 Prozent zugenommen. In derselben Zeit kamen in Niedersachsen 55 Prozent mehr Menschen ins Gefängnis, in Schleswig-Holstein aber nur knapp 17 Prozent, obwohl die Kriminalitätslage der beiden benachbarten Bundesländer durchaus vergleichbar war. Die Kriminologen fanden heraus: Die niedersächsischen Juristen klagten Rechtsbrecher viel häufiger an und verurteilten sie öfter zu langjährigen Gefängnisstrafen als ihre Kollegen in Schleswig-Holstein. Die Konsequenz für die leidgeplagten Haushalte: In Hannover, so die Rechnung der Kriminologen, musste man für die Mehrkosten des Strafvollzugs 400 Millionen Euro berappen, in Kiel dagegen nur 39 Millionen.

Und noch eine beunruhigende Erkenntnis für den Klimawechsel unter denen, die das Recht anwenden sollen: Stichprobenartige Befragungen unter Jurastudenten zeigen, dass unter ihnen die Zahl der Todesstrafenbefürworter zunimmt. Und es schwinden die Skrupel, selbst kleine Kriminelle in Haft zu nehmen. Liberale Grundsätze, die wir für gesichert hielten, scheinen ihre Gültigkeit zu verlieren. Hier droht eine neue Generation gnadenloser Richter heranzuwachsen - die "Generation Schill".

Wirklichkeit Nummer vier. Hinter Gittern sitzen viele auch nur für kurze Zeit - weil sie zum Beispiel ihre Geldstrafe nicht zahlen können. So ist in den vergangenen zehn Jahren Armut in zunehmendem Ausmaß ein Grund, dass Menschen ins Gefängnis müssen.

Öffentlich wird gern behauptet, kurze Freiheitsstrafen seien in Deutschland die große Ausnahme. Doch das Gegenteil ist richtig. Die ZEIT-Umfrage belegt: In Baden-Württemberg sitzt jeder dritte Häftling höchstens zwölf Monate ein, in Brandenburg jeder zwölfte höchstens drei und jeder zehnte allenfalls sechs Monate. In Hessen verbüßen 27 Prozent der Gefangenen eine bis zu sechsmonatige Freiheitsstrafe, in Nordrhein-Westfalen 23 Prozent. Einer der häufigsten Gründe eben: Die Verurteilten waren außerstande, ihre Geldstrafe zu berappen. Denn wer nicht zahlen kann, landet meist hinter Schloss und Riegel; Ersatzfreiheitsstrafe nennen das die Juristen. Nur selten bieten die Gerichte an, was laut Gesetz möglich ist: die drohende Haft durch gemeinnützige Arbeit abzuwenden. Mecklenburg-Vorpommern jedoch hat diese Chance ergriffen, mit großem Erfolg. 1996 noch war fast jeder vierte Gefangener ein so genannter "Ersatzfreiheitssträfling", vier Jahre später nur jeder fünfzehnte. Der ostdeutsche Durchschnitt: jeder zehnte.

Wirklichkeit Nummer fünf. Gefängnisse, sagt eine uralte Erkenntnis, sind Schulen des Verbrechens. Dabei waren sie einst eine humane Errungenschaft, eine bahnbrechende Reform. Ihren Ursprung haben sie im 16. Jahrhundert. Damals wurden in England und Holland die ersten Haftanstalten gegründet, Arbeitshäuser, die an die Stelle der Kerkerhaft des Mittelalters treten sollten. Sie wurden jedoch trotz ungezählter Neuerungen und Verbesserungen im Laufe der Jahrhunderte nie zu wirklichen Besserungsanstalten. Der berühmte Historiker Michel Foucault behielt Recht: Überlebt hat in den Gefängnissen vor allem die Ausgrenzungsfunktion und die Ansteckungsgefahr für weitere Kriminalität - je jünger die Sträflinge, desto größer das Infektionsrisiko.

Daran hat auch das deutsche Strafvollzugsgesetz von 1977 - damals eines der weltweit modernsten - nichts geändert. Ihrem eigentlichen Ziel sind die Reformer ein Vierteljahrhundert später kaum näher gekommen, nämlich Kriminelle in der Haft so zu bessern, dass sie danach, wie es das Gesetz verlangt, "in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten führen können". Dafür gibt es viele Ursachen. Resozialisierung braucht Zeit und Geduld, vor allem aber gute persönliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Die haben sich dramatisch verschlechtert: Der Rache- und Vergeltungsgedanke gewinnt wieder an Bedeutung, in den Zellen ist kein Platz mehr frei, die Sozialarbeiter und Psychologen sind überlastet; immer weniger Gefangene finden Arbeit, und der karge Lohn reicht nicht als Polster für die Zeit nach der Entlassung. Zudem: In den Gefängnissen sitzen heute andere Straftäter als vor 1977, mehr Rauschgiftsüchtige, viele Ausländer. Der Resozialisierungsgedanke stößt da zwangsläufig an Grenzen - an medizinische und psychologische, an sprachliche, religiöse, ethnische und kulturelle. Es bleibt die ernüchternde Bilanz: Vier von fünf Gefangenen werden nach ihrer Entlassung wieder rückfällig.

Vision. Weil Haftstrafen mehr an- als ausrichten, weil ihre Kosten höher sind als ihr Nutzen, sollten sie möglichst vermieden werden. Die Devise muss deshalb lauten: Leert die Knäste! Entlasst vor allem jene, deren Strafmaß gering ist, die keine Schwerverbrecher sind und anders wirkungsvoller bestraft werden könnten - vor allem mit gemeinnütziger Arbeit.

Gemeinnützige Arbeit kann, weil Zwangsarbeit von Verfassungs wegen verboten ist, nur mit Einwilligung des Verurteilten verhängt werden. Wo dies geschieht, hat man gute Erfahrungen gemacht: etwa mit jugendlichen Straftätern, die in Deutschland schon seit langem Parkanlagen säubern. Aber warum gibt es diese Option für die Richter nur bei jungen Menschen? Gemeinnützige Arbeit sollte bei Erwachsenen gleichberechtigt neben die Geld- und Freiheitsstrafe treten. Und zwar als eine selbstständige Sanktion und nicht bloß als Ersatz für eine Geldstrafe, wie dies die Bundesjustizministerin in ihrem Gesetzentwurf plant, den sie nach eigener Aussage "in den nächsten Wochen" in den Bundestag einbringen will.

Warum soll der Richter einen erwachsenen Dieb, wenn dieser damit einverstanden ist, nicht gleich zum Straßenfegen verdonnern dürfen? Die holländische Justiz verurteilt auch Straftäter jenseits der Minderjährigkeit zum Reinigen der Strände. Dort werden Jahr für Jahr rund 25 000 Geld- und Freiheitsstrafen verhängt - und bereits 18 000 Arbeitsstrafen. Der Erfolg spricht für sich: Wer schwitzt statt sitzt, wird seltener rückfällig. Das mag an dem sinnstiftenden Ergebnis gemeinnütziger Arbeit liegen, ebenso an der Erfahrung, gebraucht zu werden, vielleicht auch daran, dass die Verurteilten im Kreis der Familie bleiben und im Übrigen ihrer Arbeit weiter nachgehen können (was übrigens auch den Opfern zugute kommt, die so noch am ehesten eine Entschädigung erhalten).

Eine weitere Alternative zum Knast: Der Richter sollte dem Dieb oder Schläger ein Fahrverbot erteilen dürfen. Auch Justizministerin Herta Däubler-Gmelin will das Fahrverbot als Hauptstrafe einführen, aber nur eingeschränkt für Taten, "die im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen" begangen worden sind. Es ist das alte, überkommene Argument: Sonst ginge der inhaltliche Zusammenhang zwischen Tat und Strafe verloren. So redet auch der ADAC. Ein Fahrverbot, wettert er, würde große Ungerechtigkeiten schaffen zwischen Fahrern und Nichtfahrern, Berufs- und Freizeitfahrern, Land- und Stadtbewohnern.

Keine Sanktion aber trifft alle Täter gleich. Der eine zahlt die Geldstrafe aus seiner Portokasse oder lässt die betuchten Eltern löhnen, den anderen erdrückt die Schuldenlast. Und unter einer Gefängnisstrafe leidet ein Verurteilter, der Familie und einen Job hat, noch stärker als ein arbeitsloser Einzelgänger.

Um kein Missverständnis zu erzeugen: Die Justiz soll ja nicht verpflichtet werden, ein Fahrverbot zu verhängen. Sie soll nur endlich unter mehreren schmerzenden Sanktionen auswählen können. Denn auch ein Fahrverbot kann wehtun. Es schränkt die Freiheit ein und trifft viele Menschen an ihrer empfindlichsten Stelle: in ihrer Liebe zum Auto und dem Bedürfnis, immer auf Achse zu sein.

Ein dritter Vorschlag zur Leerung der Gefängnisse: Wo man sich in der Welt auch umschaut - Straftäter, die eine Bewährungschance erhalten, werden viel seltener rückfällig als jene, die für die gleiche Tat sofort weggesperrt wurden. Doch Bewährungsstrafen werden heute seltener verhängt als noch vor zehn Jahren, und auch die Möglichkeit, nach zwei Dritteln der Haftzeit auf Probe in Freiheit zu gelangen, schwindet von Tag zu Tag. Ein Irrweg.

Die Strafe ist stets ein "Griff ins Dunkel", schrieb der berühmte Strafrechtslehrer Franz von Liszt Anfang des vergangenen Jahrhunders. Daran hat sich nichts geändert. Niemand kann genau voraussagen, was wirklich hilft, um einen Kriminellen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Nur so viel wissen wir: Die Gefängnisstrafe, ob sie zum Schutz der Gesellschaft, zur Sühne der Tat oder zur Besserung des Täters verhängt wird, ist nicht nur, im Lisztschen Sinne, ein Griff in tiefe Finsternis, sondern allzu oft ein Fehlgriff.

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