[ ZURÜCK ]

übernommen aus:

DIE ZEIT


08/2003

Sexualverbrechen

Wird er es wieder tun?

Aus Angst vor öffentlicher Empörung weigern sich Richter und Gutachter, Sexualverbrecher aus der Haft zu entlassen. Politiker buhlen um Volkes Stimme und verschärfen Strafgesetze. Bericht über eine um sich greifende Hysterie

Von Sabine Rückert

Was ist so besonders an Albert Haidn, dass sich das Bundesverfassungsgericht, das Kanzleramt, der Bundestag, der Bundesrat, der Bayerische Landtag, die Justizminister aller Länder, der Präsident des Bundesgerichtshofs und der Generalbundesanwalt mit ihm befassen? Haidn ist kein Held, er ist nicht einmal ein guter Mensch.

Albert Haidn ist ein Sexualstraftäter. Vor 17 Jahren hat er eine Zwölfjährige zweimal vergewaltigt. Es war die Tochter seiner Geliebten. Er hatte das Mädchen auch zuvor schon häufig missbraucht, aber diese Taten waren verjährt, als die junge Frau – erwachsen geworden – ihn anzeigte. Im März 1999 wurde Albert Haidn verurteilt. Weil der Angeklagte da aber schon 64 Jahre alt war, die Taten lange Zeit zurücklagen und außerdem Haidns Schuldfähigkeit wegen einer schweren Kopfverletzung und eines zerebralen Zerfallsprozesses ziemlich zweifelhaft war, beließ es das Landgericht Passau bei einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Das Urteil beruht vor allem auf den Aussagen der Hauptbelastungszeugin. Haidn selbst hatte die Taten energisch bestritten und behauptet, Opfer eines Racheakts zu sein. Dabei blieb er auch im Gefängnis. „Ich bin unschuldig verurteilt“, kritzelte er auf einen Fragebogen der Justizvollzugsanstalt Bayreuth, wo er seither einsitzt. Eine Tätertherapie lehnte er ab, weil „ich niemand vergewaltigt habe“. Doch was im Prozess das gute Recht des Albert Haidn war, nämlich die Tat zu bestreiten, wurde ihm im Vollzug zum Verhängnis. Denn wer die Tat bestreitet, dem wird von Psychiatern und Psychologen eine schlechte Prognose bescheinigt.

Tut er es wieder? – lautet die Frage jener Sachverständigen, die sich gutachterlich über die Akten möglicherweise rückfallgefährdeter Straftäter beugen und sich einen Reim machen sollen auf die innere Lage des Probanden. Wird er es wieder tun?, fragten sich auch der Psychologe R. und der Psychiater B., die im Auftrag des Gerichts in Albert Haidn hineinhorchten und bei ihm weder Reue noch Einsicht zu finden vermochten, sondern allein zu hören bekamen, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen. „Derzeit kann keine günstige Prognose gestellt werden. Da sich Herr Haidn für unschuldig hält, ist er für therapeutische Maßnahmen nicht offen“, schreibt der Psychologe R. in seinem Gutachten.

Wo Gerichtsurteile nicht mehr bindend sind, beginnt die Willkür

Deswegen ereilte den Albert Haidn kurz vor seinem Entlassungstermin im April 2002 das brandneue „Bayrische Landesgesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Sraftätern“, das wenige Wochen zuvor in Kraft getreten war. Dieses Polizeigesetz soll dem Schutze der Bürger dienen. Es verpflichtet die bayerischen Justizvollzugsanstalten, für Mörder, Gewalttäter und Sexualstraftäter auch nach Verbüßung ihrer Strafe ohne Vorwarnung die unbefristete Sicherungsverwahrung zu beantragen, wenn sie noch gefährlich sein könnten. Böse Überraschung für Haidn: Er darf nicht raus, obwohl er seine dreieinhalb Jahre abgesessen hat. Er bleibt womöglich für den Rest seines Lebens hinter Gittern, vielleicht noch 10 Jahre, vielleicht noch 20 Jahre, wer weiß?

Im deutschen Strafrecht ist die Sicherungsverwahrung das allerletzte Mittel, deshalb wird sie nur im Ausnahmefall angewandt. Genau genommen ist sie keine Strafe, sondern wird im Anschluss an die Freiheitsstrafe vollzogen, wenn die Öffentlichkeit weiter vor dem Täter bewahrt werden muss. Betroffen sind davon bisher nur hoch gefährliche Rückfalltäter, die das Gericht im Urteil ausdrücklich mit diesem schweren Eingriff belegt hat. Mindestens muss das Gericht ihnen aber angedroht haben, dass die Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt werden kann. Das ist in Bayern nun anders. Bei vier Sexualstraftätern wurde schon ohne Vorankündigung im Urteil die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet. Einer davon ist Haidn, heute 68 Jahre alt.

Deshalb interessieren sich höchste Ämter und Gerichte für ihn – an Haidn könnte das neue Polizeigesetz des Freistaates scheitern. Sein Verteidiger, der Bayreuther Anwalt Johannes Driendl, hat sich an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Denn – so die Quintessenz seiner Beschwerde – dass jemand, der für seine Tat gebüßt hat, ohne neue Straftat und ohne neues Urteil weiter hinter den Gittern einer Strafanstalt bleiben muss, rüttelt an den Grundrechten der Bürger und erschüttert das Fundament der Gerechtigkeit. Wenn das Urteil eines Gerichts nicht mehr verlässlich ist, sondern nachträglich nach Belieben verschärft werden kann, ist die Tür zur Willkür aufgestoßen.

Täter, die beichten, haben bessere Karten bei Psychologen

Als die ZEIT Albert Haidn aufsuchen will, braucht es dazu einen richterlichen Beschluss – die Leitung des Bayreuther Gefängnisses und das Justizministerium des Freistaates versuchen hartnäckig zu verhindern, dass kritische Medien den Häftling zu Gesicht bekommen. Das Treffen findet dann doch statt – dank einer Entscheidung des Landgerichts Bayreuth und gegen den Widerstand der Anstalt. Ins Besucherzimmer tritt ein kleiner alter Mann mit wirrem Haar und abgetragenem Mantel. Er ist schlecht zu Fuß und hält sich am Stock fest. Wegen seiner Gebrechlichkeit lebt er auf der Invalidenstation des Gefängnisses. Erst bekommt Haidn gar nichts mit, weil er sein Hörgerät vergessen hat. Dann sagt er, dass er die Welt nicht mehr versteht: Warum darf ich nicht einmal hinaus, um meine Familie zu besuchen? Warum muss ich Fußfesseln tragen, wenn ich zum Hörgeräteakustiker in die Stadt gebracht werde?

Weil er eine schlechte Prognose hat. Dass Haidn sich in der Anstalt nichts hat zuschulden kommen lassen, dass er keine Raumpflegerin belästigt und keine Beamtin an den Busen gefasst hat, spielt dabei keine Rolle. Er ist ja seit April 2002 nicht mehr eingesperrt für ein Verbrechen, das er begangen hat, sondern für eines, das er begehen könnte. Ebenso wenig hilft es Albert Haidn, dass er angibt, im Laufe der Jahre impotent geworden zu sein. „Das Alter verstärkt nach statistischer Erfahrung die Zuwendung zu Kindern als Ersatzobjekten“, schreibt das Landgericht. „Bei Erektionsstörungen muss mit Ersatzhandlungen und impulsiven Übersprungshandlungen gerechnet werden.“ Das stimmt, und es bedeutet für Haidn: Potenz ist schlimm, Impotenz ist schlimmer. Wie man es auch sieht, Haidn muss sitzen.

Der Psychologe R. hat für sein Gutachten mit Haidn einige Tests durchgeführt, darunter auch den FAF-Test, der Aggressionspotenziale im Straftäter aufdecken soll. Haidns Testergebnisse fallen günstig aus, und der Psychologe versieht das Ergebnis mit folgendem Kommentar: „Die Fragen des Tests sind sehr leicht zu durchschauen und dadurch leicht manipulierbar. Der Proband … stellt sich als völlig aggressionslosen Menschen dar.“ Wenige Seiten zuvor hat der Psychologe bei Haidn allerdings noch eine „deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Gesamtbefähigung“ diagnostiziert, sodass sich die Frage aufdrängt, ob der Psychologe mit Tests arbeitet, die nichts taugen, oder ob seine Anmerkung schon vom vorauseilenden Gehorsam diktiert ist. Aufgrund der Feststellungen der Fachleute R. und B. bleibt Haidn nach dem Willen des Landgerichts Bayreuth weiterhin in seiner Zelle.

Der von den Gutachtern hergestellte Zusammenhang zwischen Schuldeingeständnis und Rückfallrisiko eines Straftäters wird von den Bayreuther Juristen übernommen. Es entspricht der gängigen Vorstellung, die Prognose eines Täters sei umso besser, je mehr er sich zu seinen Verbrechen bekennt und die Verantwortung dafür übernimmt. Doch befragt man dazu Experten für Kriminalpsychologie, sehen die keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Beichte und Besserung. Das Abstreiten einer Tat gilt – das ist herrschende Meinung – als prognostisch wenig bedeutsam. So wird bei Exhibitionisten oft leidenschaftlicher Geständnisdrang, aber auch eine immense Rückfallquote festgestellt, Inzesttäter dagegen geben ihre Schuld kaum einmal zu, werden aber auch nur selten rückfällig. Es scheint so, als würde im Fall Haidn unfügsames Verhalten psychologisch überhöht zum ungünstigen Prognosefaktor.

Das bayerische Straftäterunterbringungsgesetz ist nicht die einzige Bemühung zum strengeren Umgang mit Straftätern. Der Gesetzgeber ist schon seit einigen Jahren pausenlos dabei, auf öffentlichen Druck hin das Strafrecht zu verschärfen. Das ist das Zeichen für einen Perspektivwechsel in Gesellschaft und Kriminalpolitik. Vertraute man in den siebziger und achtziger Jahren, vielleicht manchmal zu blauäugig, auf die Wunder der Resozialisierung, so ist Deutschland heute auf dem Weg in die Null-Risiko-Gesellschaft, die immer weniger Kriminalität hinnimmt. Das ist auch ein Werk von Journalisten. Manche Medien sehen ihre Aufgabe darin, vielstimmig, vielfarbig und auflagenstark die Wut auf den bösen Mann hinterm Busch anzuheizen, und Populisten aus der Politik schlagen Kapital aus dem lodernden Volkszorn.

Wieder so ein Schwein, titelte Bild am 22.Oktober 2002 und präsentiert seinem Millionenpublikum den 24-jährigen Ulvi K. mit Foto als „Killer“. K. hatte gestanden, die neunjährige Peggy ermordet zu haben, deren Verschwinden aus Lichtenberg in Bayern wochenlang Presse und Fernsehen bewegte. Im Bild-Artikel steht allerdings nichts davon, dass das „Schwein“ geistig behindert ist. Erst am Folgetag wird die Behinderung erwähnt. Ulvi K. kann den Beamten jedoch nicht sagen, wo Peggys Leichnam ist. Erst behauptet er, sein Vater habe diesen beseitigt, dann widerruft er das ganze Geständnis. Der Vater sagt, er wisse von nichts. Die Kripo findet weder in seinem Haus noch in seinem Auto eine DNA-Spur, die Ulvis Geständnis stützt.

Keine Zeugen, null Beweise – trotzdem schafft Bild die Unschuldsvermutung ab und tritt die Empörungswelle los: Öffentlich wird eine psychiatrische Gutachterin gegeißelt. Sie hatte Ulvi K., der vor Kindern masturbiert hatte, früher wegen Exhibitionismus untersucht und ihn aufgrund einer hirnorganischen Schädigung für schuldunfähig gehalten. „Sie hat nicht erkannt, wie gefährlich Peggys Mörder ist“, ruft Bild. Ein großes Foto zeigt die Ärztin mit einem schwarzen Balken vor den Augen. Ist sie eine Verbrecherin?

Die Staatsanwaltschaft Hof gibt sich unbeeindruckt vom dürftigen Ertrag der eigenen Ermittlungen: Sie will jetzt gegen Ulvi K. Anklage wegen Mordes erheben. Ohne Leiche, ohne Spur. Allein auf der Basis der widerrufenen Aussage eines geistig Minderbemittelten. „Was würde die Öffentlichkeit sagen, wenn wir das Verfahren einstellen würden?“, fragt der Behördenleiter. Doch welches Gericht wird Ulvi K. verurteilen?

„Saustall Justiz“ – Zeitungen stacheln Volksvertreter auf

Auf welch wackeligen Beinen die Täterschaft des „Schweins“ steht, erfahren die Leser von Bild nicht, denn als die Zeitung erkannte, dass die Ermittlungen feststecken und sich aus dem Geistesschwachen kein weiterer Zorn schlagen lässt, war aus dem Thema die Luft raus. Dafür machte sich in den Leserbriefen nun das gesunde Volksempfinden Luft. „Die Mordbestie als Schwein zu bezeichnen ist eine Diskriminierung dieser harmlosen Tiergattung“, entrüstet sich ein Herr Thon in Remseck. Und Herr Norger aus Kerken fragt: „Warum setzt man solche Bestien nicht auf einer einsamen Insel aus? Da können sie sich gegenseitig auffressen.“ Hier spricht das angenehme Gefühl, selbst ein feiner Kerl zu sein. Wer sich an unbekannten Sexualstraftätern abarbeitet, kann vergessen, dass 80Prozent aller ermordeten Kinder nicht von freigelassenen oder falsch eingeschätzten Sexualtätern, sondern von Mutter, Vater oder Verwandten erstochen, erschlagen, vergiftet, erdrosselt oder aus dem Fenster geworfen werden. Nicht einmal fünf Prozent fallen einem Fremden zum Opfer, der Rest der Täter ist nicht ermittelt.

Wehe aber den Gutachtern und den Richtern, die einen Vertrauensvorschuss wagen und mit ihrer Zuversicht scheitern. Wehe denen, die unter tausend Richtigen einen Falschen laufen lassen. Und dreimal wehe, wenn dieser Falsche ein Sexualstraftäter ist. Voll Inbrunst machen sich Boulevardblätter und Fernsehsender über den „Saustall Justiz“ her, der solche „Monster“ auf die Öffentlichkeit loslässt. Die Leiden der Opfer werden in einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Voyeurismus genüsslich ausgebreitet, und in Fachkreisen unbekannte „Experten“ und „Psychologen“ geben in Interviews Stammtischparolen zum Besten. Und in die Beschreibungen, die der Leserschaft ein wohliges Grausen bescheren, mischt sich als Subtext die Botschaft: Bist du, sind deine Kinder vor solchen Ungeheuern wirklich sicher? Aus wenigen Ausnahmefällen wird dank medialer Anstrengung in der Fantasie der Bürger ein Klima des Verbrechens erzeugt und die Furcht geschürt, an jedem Spielplatz könnten Perverse lauern.

Richter wälzen die Last der Entscheidung auf Gutachter ab

Dabei findet diese gefühlte Kriminalität in der kalten Statistik des Bundeskriminalamtes keinen Niederschlag. Seit dem Krieg nimmt die Zahl der vollendeten Sexualmorde und die Zahl der Versuche stetig ab. Noch nie war die Zahl der kindlichen Opfer von sexuell motivierten Tötungsdelikten so klein wie in jüngster Zeit. Noch nie wurden – entgegen dem öffentlichen Eindruck – weniger Kinder sexuell missbraucht. Hinzu kommt noch, dass über ein Drittel der angezeigten Fälle allein der Exhibitionismus ausmacht, nur drei Prozent aller missbrauchten Kinder wurden vergewaltigt. Der Grund für diese Entwicklung sehen Fachleute wie Rudolf Egg, Leiter der kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, nicht in Gesetzesverschärfungen, sondern in einer funktionierenden Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich schwer gestörter Kinder früh genug annimmt und so oft das Heranwachsen zum brutalen Sexualtäter verhindert.

Auch die sexuelle Liberalisierung trüge zu den rückläufigen Zahlen bei, weil zum Beispiel ein erfülltes Geschlechtsleben im Alter betagte Männer von Übergriffen auf Kinder und Jugendliche abhielte. Trotzdem sind die Mütter in Deutschland für dieses Thema sensibilisiert und fürchten um ihre Kinder. Sie lassen sie nicht mehr allein zur Nachbarin gehen und rüsten sie als Maßnahme gegen Kinderschänder auf dem Schulweg mit Handys und Sendern aus, denn jeder sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Andererseits ist – statistisch gesehen – die Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener oder als Kind einem Sexualverbrechen zum Opfer zu fallen, nie so gering gewesen wie heute.

Doch dies wagt kein Volksvertreter öffentlich zu sagen, aus Furcht, zynisch zu erscheinen. Und kein Innenminister traut sich zuzugeben, dass es gegen Kriminalität, auch gegen sexuelle, keine Sicherheitsgarantie gibt. Dass Sexualstraftaten immer vorkommen werden, es sei denn, man sperrt alle Männer für immer ein. „Eine Welt ohne Gefahren gibt es nicht“, schreibt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Problematisch sei aber, wenn die Rückfallrisiken von Sexualstraftätern allein jenen aufgebürdet würden, die beruflich als Richter oder Sachverständige mit diesen Tätern befasst sind. Eggs Fazit: „Richter und Gutachter tragen zwar besondere Verantwortung, nehmen aber eigentlich nur einen gesellschaftlichen Auftrag wahr, der letztlich von der Allgemeinheit mitgetragen werden muss.“

Stattdessen machte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder im Juli 2001 fernab von deutschem Recht mit der Parole „Wegschließen – und zwar für immer“ kurzfristig sogar die Bild-Zeitung zum Freund. Der ehemalige Amtsrichter Ronald Barnabas Schill katapultierte sich mit starken Sprüchen vom Durchgreifen in den Senat der Hansestadt Hamburg, und Ministerpräsident Edmund Stoiber unterschrieb jenes bayerische Polizeigesetz, das demnächst vom Bundesverfassungsgericht wieder aus der Welt geschafft werden dürfte. Noch scheiterte der Vorschlag aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, jeden sexuellen Missbrauch eines Kindes als Verbrechen zu ahnden. Er lässt unberücksichtigt, dass dieser Straftatbestand schwere Delikte und Lappalien gleichermaßen umfasst. Das würde bedeuten, dass auch dem zaghaftesten Exhibitionisten, jedem, der einem Minderjährigen ein Sexfoto zeigt, und jedem 14-Jährigen, der seiner 13-jährigen Freundin an den Busen greift, eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr drohte. Kein Staatsanwalt dürfte ein solches Verfahren dann mehr wegen geringer Schuld einstellen.

Der Mord an der siebenjährigen Natalie gehört zu den Ereignissen, die den Anfang des öffentlichen Umdenkens markierten. Natalie, deren hübsches Gesicht mit den Zöpfen und deren lustiges Lächeln bis heute vielen im Gedächtnis ist, war 1996 von einem einschlägig vorbestraften und dann vorzeitig entlassenen Strafgefangenen sexuell missbraucht und ermordet worden. Ihr Tod erschütterte das Land und trug zur Änderung von Paragraf 454 Absatz 2 der Strafprozessordnung bei. Diese Vorschrift bestimmt, welche Straftäter unter welchen Voraussetzungen vorzeitig aus der Haft entlassen werden dürfen. Infolge von Sexualverbrechen an Kindern wurde er 1998 verschärft. Seither muss bei vielen Straftätern das Gutachten eines forensischen Sachverständigen (Psychiaters oder Psychologen) eingeholt werden, also das Votum eines Fachmanns, der sich mit kriminellem Verhalten und dessen Ursachen befasst. Von dessen Prognose hängt dann die vorzeitige Entlassung des Inhaftierten ab. Früher mussten sich solche Gutachter bloß dazu äußern, ob es „verantwortet werden kann zu erproben“, den Täter der Gesellschaft wieder zuzumuten. Ein gewisses Risiko wurde in Kauf genommen, die Gesellschaft also durchaus als Testfeld begriffen. Seit 1998 wird den Gutachtern die Vorhersage abverlangt, ob „bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“. Mit anderen Worten: Eine gute Prognose gibt es nur noch, wenn der Sachverständige versprechen kann, dass der Verurteilte es nicht wieder tut.

Was für die aufgewühlte Öffentlichkeit beruhigend klingen mag, stellt die Justiz und die forensische Psychiatrie vor unlösbare Probleme: Die Ärzte haben den Eindruck, die Justiz wälze die Last der Verantwortung für das Schicksal von Strafgefangenen (und auch ihrer möglichen Opfer) auf die Psychiatrie ab. Der Psychiater muss jetzt entscheiden, er, nicht der Richter ist „schuld“, wenn der Entlassene rückfällig wird und wieder etwas passiert. Mit der Frage: Wie vorhersagbar ist der Mensch? bleibt der Psychiater allein.

Und der Richter? Er steht vor seiner eigenen schleichenden Entmündigung. Was der Psychiater beschlossen hat, darf er in juristische Formeln gießen. Er drückt aus Unsicherheit seinen Stempel unter ein fremdes Urteil. In der Praxis definieren nicht mehr die Richter den Umgang mit dem Straftäter nach präzisen Kriterien des Strafgesetzbuchs: Die Macht der Definition ist an die Nervenärzte übergegangen, und deren Urteil ist für die Justiz unkontrollierbar und damit unangreifbar.

Gleichzeitig löst sich auch das enge Fachgebiet der forensischen Psychiatrie auf. In aller Stille verschwimmt diese medizinische Wissenschaft zu einer Art allgemeiner Charakterkunde. Der forensische Psychiater, ein Facharzt für psychisch Kranke, die aufgrund ihrer Krankheit kriminell handeln, ist nicht mehr auf Halluzinierende spezialisiert, die in wilden Psychosen um sich stechen, oder auf Psychopathen, die, von dunklen Trieben gesteuert, ihren sadistischen Neigungen nachgehen. Jetzt muss er sich – und damit verlässt er sein Gebiet – auch zur Seelenlage ganz gewöhnlicher Krimineller äußern. Er muss sagen, ob ein ganz normaler Gewalttäter wieder prügeln wird – und die meisten Gewalttäter sind, egal ob verroht, kaputt oder überfordert, ganz normale Männer. Er soll sagen, ob ein Mörder wieder morden wird – die allermeisten Mörder sind psychisch gesund. Der forensische Psychiater betritt mit solchen Aussagen den Boden psychologischen Allgemeinwissens. Die Grenze zwischen kriminell und krank, zwischen der Justizvollzugsanstalt (also dem Gefängnis, in dem Verbrecher sitzen) und dem Maßregelvollzug (also der geschlossenen Klinik, in der psychisch kranke Straftäter untergebracht sind) löst sich auf. Zwischen Bösen und Kranken wird kein klarer Unterschied mehr gemacht – zum Psychiater und in Therapie müssen sie alle.

„Für mich persönlich existiert das Böse durchaus“, sagt Norbert Leygraf, der den Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie an der Universität Essen innehat. „Es gibt Menschen, bei denen sitzt da, wo andere ein Gewissen haben, ein Loch. Deshalb ist es in Ordnung, dass es Gefängnisse gibt.“ Und woher kommt solche Gefühlskälte? „Die Fähigkeit zum Mitleid bildet sich danach aus, wie viel Gefühl einem Menschen entgegengebracht worden ist“, sagt Leygraf. „Gefühlsarme Menschen sind schwer einzuschätzen und schwer zu verändern. Wir haben keine Methode, das Mitleid zu messen.“

„Wir sollen orakeln, was jemand bis zu seinem Lebensende macht“

Der Mensch ist nahe am Bösen gebaut, das weiß jeder Zeitungsleser. Leicht lassen sich vermeintlich anständige Bürger – wie gerade auf dem Balkan geschehen – zu entmenschten Taten hinreißen, wenn der Staat aus den Fugen gerät und das Ausrotten Schwächerer zum politischen Programm erklärt wird. Wenn das Chaos ausbricht und die Gesetze nicht mehr gelten: Da werden nette Nachbarn, die eben noch über den Zaun winkten, plötzlich zu Räubern, Vergewaltigern, Brandstiftern, Mördern, Folterknechten und Henkern. Für wen kann man da die Hand ins Feuer legen? Ja, welcher Psychiater kann für sich selbst garantieren? Die neue Generalzuständigkeit des forensischen Psychiaters hat zur Folge, dass er heute, da von ihm dauernd Prognosen verlangt werden, nicht nur wissen muss, wie eine manisch-depressive Erkrankung verläuft und hinter welchen Auffälligkeiten sich eine Schizophrenie verbergen kann – er muss nun auch wissen, wie typische Lebensläufe von Tätern beschaffen sind und welche inneren und äußeren Umstände zum Rückfall führen können. Aus der Vergangenheit eines Menschen muss er auf dessen Zukunft schließen: Aus Ermittlungs- oder Krankenakten, aus der Lebensgeschichte des Täters, seinem Vorgehen bei der Tat, aus dem Eindruck, den er im persönlichen Gespräch macht, muss der Fachmann hochrechnen, wie sich dieser Mensch in drei Monaten, in drei Jahren oder drei Jahrzehnten verhalten wird.

Aus dem, was sie erfahren, zimmern die Sachverständigen dann ihre Stellungnahme fürs Gericht. „Prognosegutachten sind extrem subjektiv, sie sind letztlich Auslegungssache“, sagt Marianne Röhl, die für norddeutsche Strafkammern Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder begutachtet. „Sachverständige für Autos haben es leichter als wir.“ Frau Röhl ist forensische Psychiaterin am Klinikum Nord/Ochsenzoll in Hamburg. Wenn ein psychotischer Straftäter zur Begutachtung vor ihr sitzt, ist sie dankbar, denn solche Fälle lassen sich vergleichsweise einfach einschätzen. Wer aus einem Wahn heraus Feuer gelegt hat, tut das nicht mehr, wenn Medikamente jene Stimmen, die das Purgatorium befohlen haben, verstummen ließen. Die meisten dieser Patienten haben eine ausgezeichnete Prognose, wenn sie ihre Tabletten nehmen. Man kann sie bedenkenlos wieder unter die Leute lassen.

Ganz anders sieht es bei den Menschen mit gestörter Persönlichkeit aus, die in Gefängnissen oder in Kliniken ihrer Entlassung entgegenhoffen. Der Psychiater fragt ab: Hat er nur eine Tat begangen oder bereits mehrere? Warum mordete er mit 87 Messerstichen, wo doch schon der erste tödlich war? War es wirklich nur blinde Wut auf das Opfer? Versucht er in der Anstalt zu dominieren, oder verhält er sich sozial? Sammelt er heimlich Messer, oder zweigt er Reinigungsmittel ab? Verfasst er Drohbriefe in seiner Zelle? Was hat er gelernt? Hat sich seine Persönlichkeit geändert? Ist er bemüht? Ist er gebildet? Intelligent? Lernfähig? Hat er eine Familie, die ihn wieder aufnimmt?

Ziel der Untersuchung durch den Forensiker ist nicht – wie bei einem gewöhnlichen Psychiater – die Genesung eines Patienten, Ziel ist das Durchschauen eines Probanden. Und auch der hat ein Ziel: Er will nicht, dass der Psychiater ihm hilft, er will raus, und zwar bald. Er will, dass der Sachverständige später vor Richtern und Staatsanwälten nett über ihn spricht: Er will eine gute Prognose.

Vor der Verstellung des Probanden versuchen sich forensische Psychiater durch Fragebögen zu schützen. Von diesem Mittel versprechen sie sich die Vorhersagbarkeit von Gewalttaten. Kindheit und Herkunft, Persönlichkeitsmerkmale und Krankheiten, Leistung und Antrieb, soziales Umfeld, Verhalten innerhalb der Anstalt – alles wird durchleuchtet und auf Punktetabellen übertragen. Die Summe der erreichten Punkte soll bei der Risikoeinschätzung helfen: je mehr Punkte desto gemeingefährlicher der Mann. Das bringt gewisse Erfolge, doch auch hier ist die Crux, dass es nur selten zu klaren Ergebnissen kommt. Die meisten Probanden besetzen das breite, graue Mittelfeld: Es spricht manches für sie, aber auch einiges gegen sie. Wieder ist der Psychiater auf seine Menschenkenntnis zurückgeworfen.

„Es gibt Amokläufer, die kommen bei diesen Katalogen auf null Punkte, haben aber zehn Menschen umgebracht“, sagt Hans-Ludwig Kröber, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie in Berlin. Seiner Erfahrung nach gibt es Täter, die „prognostisch völlig offen“ sind, zum Beispiel den so genannten „tüchtigen Räuber“, eine Sorte Verbrecher, wie sie in Gangsterfilmen von Alain Delon dargestellt wird. Diese Männer sind intelligent, effizient, systematisch und ohne sichtbare Schwächen. Sie haben einen guten Beruf, intakte Beziehungen und alles, was zu einer erfolgreichen Existenz gehört. Doch sie lieben das Risiko, wollen mehr vom Leben und entscheiden sich eines Tages für das Verbrechen, weil sie erkennen, dass man auf krummen Wegen schneller zu Geld kommt. Wie soll hier eine Prognose aussehen?

„Bei der Frage, ob einer rückfällig wird, spielt der Zufall eine immense Rolle“, sagt Professor Leygraf nicht ohne Demut. Gerade hat er einen mehrfachen Vergewaltiger und grausamen Sexualmörder begutachtet, der die angeklagten Taten vor 20 Jahren begangen hat, den Strafverfolgern aber nach England entkommen war. Dort hatte er als Unternehmer und braver Familienvater all die Jahre ein gesetzestreues Leben geführt. Aufgeflogen war er nur, weil er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung in eine Verkehrskontrolle geriet. Welcher Psychiater hätte ihm vor 20 Jahren eine gute Prognose erteilt?

„Die Hälfte der Patienten sitzt zu Unrecht ein“

Damit der Richter den richtigen Fachmann findet, vergibt die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde neuerdings das Zertifikat „Forensische Psychiatrie“. Von nordrhein-westfälischen Gerichten werden inzwischen nur noch dadurch ausgewiesene Fachleute mit Prognosen betraut. Das Zertifikat wird an Fachärzte für Psychiatrie verliehen, die sich drei Jahre lang – mit beträchtlichem Aufwand – zum forensischen Psychiater fortgebildet haben. Das soll einen Mindeststandard der Gutachten garantieren. Bislang nämlich tummeln sich – so die Klage der Gesellschaft für Psychiatrie – auch zahllose Wald- und Wiesenpsychiater auf dem Feld der Prognose. Die Fehler, die sie seit 20 Jahren machen, halten sie für ihre Erfahrung. Obwohl sie nichts von Forensik verstehen, dienen sie sich den Gerichten an. Ihre Ahnunglosigkeit kaschieren sie oft dadurch, dass sie für die weitere Inhaftierung des Begutachteten votieren. Mit der Diagnose „ist gefährlich“ liegt man als Sachverständiger nie falsch. Denn heute gilt für Prognosen: Wer nichts wagt, hat Recht.

Dass Richter oft auf ungeeignete Leute als Sachverständige angewiesen sind, liegt am wenig attraktiven Berufsbild des Kriminalpsychiaters. Auch die forensischen Abteilungen psychiatrischer Kliniken klagen über Personalmangel in der Ärzteschaft. Der tägliche Umgang mit stigmatisierten Kriminellen oder doppelt stigmatisierten psychisch kranken Kriminellen wirkt abschreckend. Dazu kommt, dass stets das nervenbelastende Risiko droht, sich bei der Einschätzung eines Straftäters geirrt zu haben und nun als wahrhaft Schuldiger hinter dem rückfälligen Täter der öffentlichen Schande anheim zu fallen. Denn die Gutachter sind selbst der Dauerbegutachtung durch jedermann ausgesetzt. „Ich kann nicht Dinge voraussehen, die in 5 oder 15 Jahren eintreten“, sagt Professor Kröber. Wer weiß denn, welche Schicksalsschläge einen Delinquenten treffen und ihn rückfällig werden lassen. Vielleicht verliert er seine Arbeit. Vielleicht verlässt ihn seine Frau? Vielleicht beginnt er zu trinken? Vielleicht hat er einen Unfall? Vielleicht stirbt ihm ein Kind? Kröber sagt: „Wenn die Gesellschaft letztlich nur will, dass alle Täter für immer eingesperrt bleiben, dann soll sie das sagen, denn dann brauchen wir das ganze Gutachterwesen nicht mehr.“ Sein Kollege Michael Osterheider, der die größte deutsche Klinik für forensische Psychiatrie in Lippstadt leitet, meint: „Es ist barer Unsinn, von Psychiatern zu verlangen, das Verhalten normaler Strafgefangener zu prognostizieren. Die Meteorologen können mit all ihren Satelliten das Wetter gerade drei Tage vorhersagen, und wir sollen orakeln, was ein Mensch bis zum Ende seines Lebens macht.“

Aus Angst vor dem Rückfall werden in Deutschland immer mehr Straftäter immer länger ins Gefängnis gesperrt. Die Haftanstalten platzen aus allen Nähten, und pausenlos müssen neue gebaut werden. Und auch die sonst stiefmütterlich behandelte forensische Psychiatrie ist ungeachtet leerer öffentlicher Kassen zur Wachstumsbranche geworden. In der ganzen Republik werden Anstalten erweitert, Sicherheitsvorkehrungen verstärkt und Gebäude renoviert. Kein Bundesland, das davon ausgenommen wäre, allein Nordrhein-Westfalen plant sechs neue Häuser mit 270 weiteren Plätzen. Denn eine wachsende Zahl von Gesetzesbrechern, die zum Verbüßen einer Zeitstrafe eigentlich ins Gefängnis gehörten, werden von verunsicherten Richtern gleich unbefristet in die Forensik geschickt.

Das führt dazu, dass mehr und mehr normale Straffällige die Psychiatrien füllen. Andererseits verlassen immer weniger Insassen die Forensik, weil die Gutachter publikumswirksame Rückfälle fürchten. Das rechtsstaatliche Credo „Es ist besser, dass zehn Schuldige davonkommen, als dass ein Unschuldiger verurteilt wird“ hat sich verkehrt. Heute gilt offenbar: Besser zehn hinter Gittern, die es nicht verdient haben, als einer in Freiheit, der sich schuldig machen könnte. Der Essener Professor Leygraf muss für große Studien zum Rückfallrisiko seine Untersuchungen inzwischen weit über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen ausdehnen, weil nur wenige aus den Anstalten für psychisch kranke Täter freikommen. Auch das große Krankenhaus in Lippstadt ist heute überbelegt: Dort hat sich die durchschnittliche Verweildauer der Eingewiesenen um ein volles Drittel von vier auf sechs Jahre erhöht, wobei ein Patient den Staat 7000 Euro im Monat kostet. In der Forensik scheitert derzeit nichts am Gelde. Die Hamburger Oberärztin Marianne Röhl bringt es auf die Pointe: „Die Hälfte der Patienten sitzt zu Unrecht ein, aber welche Hälfte es ist, das weiß ich nicht.“

Wie verschieden ein Delinquent von Experten wahrgenommen wird, wie zittrig die Demarkationslinie zwischen normal und abartig gezeichnet ist und wie nahe die Risikoeinschätzung durch Sachverständige einem Horoskop kommt, zeigt der Fall des Wilfried Sabasch, der seit dem vergangenen Sommer die Öffentlichkeit entrüstet. Sabasch, der aus elenden Familienverhältnissen stammt, war seit seiner Jugend wegen kleiner Diebstähle immer wieder auffällig geworden. In die forensische Psychiatrie wurde er gesteckt, weil er – 17-jährig – eine Spaziergängerin überfallen und ihr die Unterhose heruntergerissen hatte. Elf Jahre später überfiel er während seiner Flucht aus der Anstalt wieder eine Frau und zog ihr ebenfalls gewaltsam die Unterhose herunter. Später stellte er sich, und man behielt ihn als gemeingefährlich da. Sabaschs lapidare Diagnose lautete: „Schwachsinn erheblichen Grades“. Im Landeskrankenhaus Neustadt an der Ostsee wurde er – obwohl seine Delikte vergleichsweise leicht wogen – zum Dauergast. Irgendwann war er 30 Jahre da, länger als die meisten Ärzte, länger als der Pförtner, Sabasch gehörte zum Inventar, über dessen Besserung sich das Personal nicht mehr allzu sehr den Kopf zerbrach. Und die Strafvollstreckungskammer Lübeck verlängerte – gemäß den Gutachten der Klinikärzte – Jahr um Jahr die Unterbringung des ewigen Patienten.

Die Ruhe wurde gestört, als sich eine Anwältin des aussichtslosen Falles annahm, die das Anrennen gegen hohe Klinikmauern zu ihrer heiligen Mission erkoren hatte. Auf den ersten Blick ein Segen für Sabasch, denn die Schwächsten der Schwachen brauchen Menschen, die für sie kämpfen. Und verkrustete Institutionen wie das renovierungsbedürftige Landeskrankenhaus Neustadt mit seiner damaligen – sehr konservativen – forensischen Leitung ziehen Gerechtigkeitsfanatiker an und lassen sie zur Hochform auflaufen.

Die Anwältin brachte Sabasch gegen die Anstalt auf, er war seither für das therapeutische Personal nicht mehr erreichbar. Aber die Anwältin schaffte es auch, dass ihr angeblich bildungsunfähiger, geistesschwacher Mandant den Sonderschulabschluss mit guten Noten bestand. Hilfesuchend wandte sie sich an die Hamburger Zeitschrift stern und konnte sie für das Schicksal ihres Schützlings erwärmen. Um sicherzugehen, beauftragte der stern wiederum Johann Glatzel, Professor für Psychiatrie an der Universität Mainz, Lehrbuchautor und angesehener Gerichtsgutachter, mit der externen Begutachtung des Wilfried Sabasch. In seinem 60-seitigen Gutachten kam der Sachverständige zu dem Schluss, Sabasch sei keineswegs schwachsinnig und „von Herrn S. ,infolge seines Zustandes‘, erhebliche rechtswidrige Taten nicht zu erwarten“. Damit war dem gerichtlich fortgeschriebenen Unterbringungsgrund „Schwachsinn“ die psychiatrische Grundlage entzogen. Das Urteil des Sachverständigen stand, es gab keinen Anlass mehr, Sabasch festzuhalten. Der stern veröffentlichte einen Beitrag, in dem unter der Überschrift Lasst diesen Mann frei! leidenschaftlich die Lossprechung des Eingesperrten gefordert wurde, und den Richtern des Landgerichts Lübeck blieb nichts anderes übrig, als die sofortige Entlassung des Wilfried Sabasch anzuordnen. „Die Unterbringung ist erledigt“, heißt es im Beschluss der Strafvollstreckungskammer.

Was für ein Erfolg! Als Sabasch die Anstalt am 24. April 2002 an der Seite seiner Anwältin verließ, warteten schon die Zeitungsfotografen und die Kameras des NDR. Sabasch war ein Star und seine Anwältin die heilige Johanna. Drei Monate später geht ein Aufschrei durch die Presse, als bekannt wird, dass Wilfried Sabasch am 25. Juli 2002 am helllichten Tag eine 20-jährige Frau überfallen, hinter einem Schuppen mehrfach auf besonders brutale Weise vergewaltigt und anschließend ausgeraubt hat. Plötzlich gibt es keine Helden mehr, nur noch Schuldige: die Anwältin, die Zeitschrift stern und vor allem der Psychiater Johann Glatzel, der sich als Gutachter in Sabasch so schrecklich geirrt hat.

Erst mit der Entlassung des Verurteilten beginnt die Arbeit

„Ich würde nicht sagen, dass ich mich getäuscht habe“, verteidigt sich Glatzel heute. „Von Sabaschs eigener Persönlichkeit war nach 30 Jahren Hospitalisierung nicht mehr viel übrig. Er schien mir ein totales Anstaltsartefakt zu sein. Alles, was er tat und sagte, war gelernt. Aber schwachsinnig war er nicht.“ Und das ist der Kern der Katastrophe: Der primäre Unterbringungsgrund (Schwachsinn) war entfallen. Doch für das Aufspüren neuer Gefahrenpotenziale hatte kein konkreter Begutachtungsauftrag vorgelegen. Und für das Einsperren eines Patienten, dessen altes Leiden verschwunden ist, der aber auf Grund neuer Defekte immer noch oder wieder gefährlich ist, bietet das Strafrecht keine Handhabe. Die Frage: Ist Sabasch schwachsinnig? musste mit Nein beantwortet werden. Und der Frage: Wie gefährlich ist der Mann? wurde nicht das nötige Gewicht beigemessen. So kam es zu dem grotesken und einzigartigen Vorgang, dass Sabasch nach jahrzehntelanger Bevormundung Knall auf Fall in die Freiheit und die Selbstverantwortung geworfen wurde. Üblicherweise werden solche Patienten erst nach langen Übergangsphasen in der halboffenen und offenen Abteilung der psychiatrischen Klinik zunächst in beschützende Wohngemeinschaften entlassen. Sie stehen noch viele Monate unter Beobachtung durch Fachleute. Ob Sabasch unter den gewohnten Begleitmaßnahmen rückfällig geworden wäre, ist offen. So aber war sein Scheitern absehbar.

Sabasch steht jetzt wieder vor Gericht. Er hat einen neuen Verteidiger. Fragt man seine Exanwältin, was für ein Mensch ihr ehemaliger Mandant sei, sagt sie: „Ich weiß das auch nicht mehr. Ich habe ihm alles geglaubt. Ich dachte, er habe sich charakterlich gefestigt.“ Und Professor Glatzel konstatiert: „Sabasch gehört in ein Gefängnis. 90 Prozent der Vergewaltigungen werden von psychisch gesunden Straftätern begangen. Das Delikt deutet auf einen normalen Mann hin.“ Der neue Gutachter, der sich im nun laufenden Prozess zu Sabasch äußert, hält ihn für schuldfähig und plädiert für Gefängnisstrafe.

Viele Beteiligte haben zum Desaster beigetragen: eine unengagierte psychiatrische Anstalt; eine Strafvollstreckungskammer, die Sabasch wenig Chancen ließ; eine aggressive Anwältin ohne den nötigen Abstand vom Mandanten; ein Magazin, das durch öffentlichen Druck das Gute erzwingen wollte und ein Sachverständiger, der nicht genau genug hingesehen hat. So wurde ein Sieg errungen, wo es nichts zu gewinnen gab. Gelingen konnte die Wiedereingliederung des Wilfried Sabasch nur, wenn allein sie das Ziel einer gemeinsamen Anstrengung gewesen wäre. Dass die Arbeit mit der Entlassung des Sabasch erst begann, scheint den Verantwortlichen nicht recht klar gewesen zu sein. Durch seine günstige Prognose fühlten sie sich aus der Pflicht entlassen, sich weiter um ihn zu kümmern. Die Vorstellung von der Veränderbarkeit des Menschen Sabasch war der Illusion seiner Berechenbarkeit gewichen.

[ Fenster schliessen ]