Der gefürchteten
Verachtung entkommen -
Rückblick auf 20 Jahre Selbsthilfegruppe Exhibitionisten
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4. März 2008 vor 20 Jahren trafen sich zum ersten Mal eine Handvoll Männer zur
Gründung einer neuen Selbsthilfegruppe. Auf dem ersten Blick nichts
Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war das Gruppenthema:
Exhibitionismus.
Es kommen Menschen zusammen, die wegen ihres exhibitionistischen Tuns unter
Druck geraten sind. Das FORUM sprach mit dem Mann der ersten Stunde: Alfred
Esser*, dem Initiator der in Deutschland einzigen Selbsthilfegruppe für
Exhibitionisten.
Frage 1: Was hat den Anstoß zur Gruppengründung gegeben, und wer kam in der ersten
Zeit zusammen?
Alfred Esser*:
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass es mir um Exhibitionismus vor
erwachsenen Personen geht. Ca. 90 % sind hetero-, bi- oder homosexuelle
Exhibitionisten und zeigen sich in der Regel ausschließlich vor erwachsenen
Personen. Zudem strebte mir eine seriöse Einrichtung vor, die sich ernsthaft
und sachlich mit der sexuellen „Zeigelust“ auseinandersetzt.
Nachdem ich mehrere
Therapien hinter mir hatte und ich es entsprechend mit mehreren Psychologen
und Therapeuten zu tun hatte, musste ich feststellen, dass die meisten von
ihnen dem Problem hilflos gegenüberstanden – es fehlte ein fundiertes
Hintergrundwissen. Daher hatte ich ein großes Interesse zu erfahren, wie
andere Betroffene mit ihrem oftmals unerwünschten, kriminalisierten Verhalten
umgehen und welche Erfahrungen sie von der sozialen, therapeutischen und
juristischen Seite her gemacht haben.
Nachdem ich zu Beginn in
den Tageszeitungen unter Chiffre inseriert hatte und die Redaktionen nach
zähem Ringen bereit waren, über mein Vorhaben zu berichten, setzten sich viele
Betroffene schriftlich, später über Selbsthilfe-Kontaktstellen mit mir in
Verbindung. Aus Scham trauten sich allerdings nur wenige zu den Gruppenabenden
zu erscheinen. Die meisten der bis zu 25 Betroffenen, die in den ersten
Jahren zu den Gruppenabenden kamen, standen unter juristischem Druck.
Von den Menschen der
„ersten Stunden“ ist außer mir keiner mehr dabei. Nur ab und zu lässt sich der
Eine oder Andere noch mal blicken.
Frage 2:
Wie viel Resonanz erfährt die Gruppe, die, wie sie sagen, die einzige ihrer
Art in Deutschland ist?
Alfred Esser:
Insgesamt hatten sich im Laufe der 20 Jahre weit über 300 Betroffene und viele
Interessierte aus dem ganzen Bundesgebiet, sowie auch aus Holland, der Schweiz
und Österreich mit uns in Verbindung gesetzt. Seit die Möglichkeit besteht,
sich über das Internet anonym mit mir in Verbindung zu setzen, nutzen das
viele Betroffene, um sich Information, Rat und Hilfe zu holen. Daher kommen zu
den jetzigen Gruppenabenden nur noch ca. fünf bis acht Betroffene. Einige von
ihnen kommen nur einmal, um sich auszutauschen und zu informieren, andere
kommen solange, bis ihre Bewährungsauflage abgelaufen ist. Zurzeit besteht
noch ein fester Stamm von fünf Männern. Ja, leider ist unsere Gruppe die
einzige in ganz Deutschland. Der persönliche Austausch wäre an so vielen
Stellen hilfreich und notwendig.
Frage 3:
Welche Erwartungen
haben die Gruppenmitglieder und welche nehmen sie aus dem Gesprächskreis mit?
Alfred Esser:
Ein Teil der Männer (jeden Alters), die zu den Gruppenabenden kommen, sich
aber auch per Internet melden, erwarten Hilfe, weil sie wegen einer Anklage in
große Schwierigkeiten geraten sind. Aber auch, um zu hören, wie sie von ihrem
„Zwang“ loskommen können, sowie über vieles mehr, was mit der Problematik
verbunden ist.
In der Gruppe unter
Betroffenen erfahren die Anwesenden, nicht alleine mit ihrem Problem zu
sein. In der Gruppe können Betroffene oftmals erstmals frei und offen über
ihre für sie selbst „unverständliche“ Neigung sprechen und sich, ohne
verurteilt zu werden, damit auseinandersetzen. Die größte Furcht aller
Betroffenen ist, dass ihr soziales Umfeld von ihrer sexuellen Neigung erfährt.
Die befürchtete Verachtung führt nicht selten bis hin zum Selbstmord.
Frage 4:
Ist die
Selbsthilfegruppe eine reine Männerdomäne und ausschließlich für Betroffene
offen?
Alfred Esser:
Zu den Gruppenabenden kommen fast ausschließlich betroffene Männer. Den
Hauptgrund sehe ich darin, dass weiblicher Exhibitionismus nach dem Gesetz
nicht strafrechtlich verfolgt wird und bei Männern in der Regel willkommen
ist. So wird der krasse Unterschied zwischen weiblichen und männlichen
Exhibitionismus auch vom Gesetzgeber begründet. Die Exhibitionistinnen, mit
denen wir in Verbindung standen, bestätigen allesamt, dass ihre
Vorzeigeaktionen bei Männern meist gerne gesehen werden.
Ab und zu kommen auch
Angehörige von Betroffenen wie beispielsweise Mütter oder Partnerinnen. Sie
möchten etwas über das stark tabuisierte Verhalten erfahren, um so ihre
Angehörigen besser zu verstehen und ihnen somit beistehen oder helfen zu
können. Unsere Erfahrung zeigt, dass Angehörige in ihrem sozialen Umfeld aus
Scham mit niemandem darüber reden können und froh darüber sind, dass es so
eine Einrichtung wie unseren Gesprächskreis gibt.
Auch kamen schon
Bewährungshelfer, um sich etwas schlau darüber zu machen, sowie Menschen, die
z. B. eine Diplomarbeit zu diesem umfangreichen Thema schreiben. Desweiteren
haben sich u. a. Beratungsstellen, aber auch die Medien, mit uns in Verbindung
gesetzt.
Frage 5: Wie sieht die Zusammenarbeit der Gruppe mit professionellen Helfern aus?
Alfred Esser:
Die gibt es leider nur sehr selten. Das könnte meines Erachtens daran liegen,
dass es nur sehr wenige Psychologen oder Therapeuten in Deutschland gibt, die
sich für diese Problematik intensiver interessieren, sich dafür qualifizieren
oder sich bemühen, ein fundiertes reales Wissen über Exhibitionismus zu
bekommen.
Frage 6:
Lassen Sie uns
nochmal einen Rückblick machen: Gibt es so etwas wie "die wichtigsten
Etappen“ Ihrer Gruppenarbeit?
Alfred Esser:
Das sehe ich so nicht. Da ständig neue Betroffene zu den Gruppenabenden kommen
und den „Neuen“ vorrangig Aufmerksamkeit zuteil wird, erlebe ich keine
kontinuierliche Weiterentwicklung. Zu den wichtigen Zielen gehört alles, was
damit in Verbindung steht, um möglichst nicht mehr straffällig zu werden.
Wobei wir die Erfahrung gemacht haben, dass Exhibitionismus nicht
wegtherapiert werden kann.
Frage 7:
Würden Sie heute noch mal diese Gruppe gründen?
Alfred Esser:
Ja und nein. Nein wegen fehlender Lobby, die bürgerliche Existenz ist ständig
gefährdet und man muss zwangsläufig ein Doppelleben führen. Daher mein
Pseudonym Alfred Esser. Ja, weil es ein höchst interessantes und brisantes
Gebiet ist, bei dem ein Mangel an sachlicher Aufklärung bitter nötig ist. Es
gibt mir eine gewisse Befriedigung und macht auch etwas Stolz, so vielen
verzweifelten Hilfesuchende Rat und Beistand geben zu können. Allerdings
könnte unser Gesprächskreis ohne eine Kontaktadresse wie die des
Gesundheitsamtes und der K.I.S.S. nicht existieren.
Frage 8: Wagen Sie eine Prognose für die nächsten "20 Jahre"?
Alfred Esser:
In Hinsicht auf das Thema Exhibitionismus wird sich vermutlich nicht viel
ändern. Ich meine, dass alles was mit Sexualität zu tun hat, einer gewissen
Heuchelei, Unaufrichtigkeit, Unsachlichkeit oder Verteufelung unterliegt. Wenn
ich meine Dienste für die Gruppenarbeit einstelle, wird es vermutlich keine
(kostenlose) kompetente Ansprechstelle mehr für dieses, in der Gesellschaft
einerseits verachtete, andererseits auch belustigende Zeigelust-Verhalten
geben.
Frage 9:
Haben Sie noch ein
persönliches Anliegen, dass Sie unseren Leserinnen und Lesern mitteilen
möchten?
Alfred Esser:
Ich wünsche mir eine wissenschaftliche Studie, in der die sexuelle, die
menschliche Seite beleuchtet wird. Bisher liegen nur Untersuchungen und
Studien mit juristischem Hintergrund vor, die von der Gesamtproblematik her
wenig aussagen. Erfreulicherweise wurde von der Kriminologischen Zentralstelle
Wiesbaden 2004 eine Studie veröffentlicht, die aussagt, dass Exhibitionisten
(in der Regel) weder gewalttätig sind noch werden. Durch sachliche Aufklärung
könnte die oftmals auftauchende Angst, Panik und Hysterie in der Gesellschaft
vermieden, sowie die vielen unsinnigen Vorurteile und Klischees abgebaut
werden, wie z. B. dass der Exhibitionist seine sexuelle Lust nur aus dem
Erschrecken seines Gegenübers gewinnen kann und zu keinem normalen
Geschlechtsverkehr fähig ist.
Exhibitionismus mag
moralisch nicht in Ordnung sein, es jedoch leichtfertig mit schweren
Sexualdelikten in einem Topf zu werfen, wie es oftmals geschieht, ist nicht
gerechtfertigt.
Mein Buch „Zeigen
verboten“, das 1996 veröffentlicht wurde und meine ergänzende Broschüre
„Fakten und Wissenswertes über Exhibitionismus“ vom Mai 2006 geben einen
Einblick in dieses brisante Tabuthema. Wenn meine Bemühungen, mein nicht
geringer Zeit- und finanzieller Aufwand sowie meine vielen weiteren
Aktivitäten eine soziale, therapeutisch und juristische Verbesserung zur Folge
hätten, wäre das für mich eine Bestätigung, dass nicht alles umsonst war.
*Alfred
Esser ist das Pseudonym für den Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe
Exhibitionisten in Dortmund. Die Gruppe trifft sich
jeden 1. und 3.
Dienstag im Monat
von 19.00 – 21.00 Uhr
Kontakt:
per E-Mail:
EsserAlfred@aol.com
Postweg:
Selbsthilfegruppe Exhibitionisten, c/o K.I.S.S., Friedensplatz 8,
44135 Dortmund (die Post
wird ungeöffnet an die Gruppe weitergeleitet)
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Danksagungen:
Lieber Herr Esser, 4.3.08
leider war unser Internet-Anschluss eine ganze Zeit lang defekt (EMails wurden
erst im Haus ausgefiltert, so dass Sie wahrscheinlich auch keine Fehlermeldung
bekommen haben), weswegen ich Ihre Information erst vor einigen Tagen bekam.
Aber weil es heute ja exakt passt: Auch wenn Sie auf die Frage, ob Sie die
Gruppe noch einmal gründen würden, mit "ja und nein" antworten, möchte ich
Ihnen dennoch zu den "20 Jahren" gratulieren - zu Ihrem Mut, Ihrem Engangement
und Ihrem Durchhaltevermögen! Ich hoffe, dass der Pressetermin erfolgreich war
- vielleicht auch dahingehend, dass die Fragen der (hoffentlich zahlreich
anwesenden) Medienvertreter Ihnen gezeigt haben, dass sich in 20 Jahren (auch
dank Ihres Einsatzes!) doch das eine oder andere bewegt hat.
Ihnen weiterehin alles Gute und herzliche Grüße
Jutta E........ (KrimZentralstelle Wiesbaden)
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Hallo Alfred 7.3.08
Habe heute in aller Ruhe das gelesen, was du mir zugeschickt hast !!!!!!!
Und muß dir sagen, es ist sehr gut formuliert und trifft den Nagel auf den
Kopf !
Genau das ist es, was man in der breiten Öffentlichkeit kund tun muß, damit man
auch versteht, unter was für einen Druck manche stehen und denoch keine Hilfe
haben. Wenn du nicht vor 20 Jahren so etwas ins leben gerufen hättest ! Denn auch ich
war ein Hilfesuchender.
Ich nehme den Hut ab vor deiner Leistung, und weiterhin viel Erfolg.
Gruß W..........
Ps. Bin für dich jederzeit ansprechbar !
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Und was sagt die Presse?
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20.03.2013 14:02
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Quellenangabe:
www.ruhrnachrichten.de/lokales/dolo/art930,200457
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Monika Hecking von der Selbsthilfe, Rechtsanwalt Reinald
Imig und Dr. Ulrike Ullrich vom
Gesundheitsamt (v. links) wissen den Nutzen von
Selbsthilfe zu schätzen. Foto: Böhm-Heffels
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Quellenangabe: Dortmunder Stadtanzeiger

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Quellenangabe: Westfälische Rundschau vom 08. Mai
2008
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Wochenkurier vom 3. Mai 2008
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